Dekan Dr. Thorsten Krannich, Ulm
Die Menge der Regeln hat sich nicht vermehrt, sondern verändert. Diese etwas verblüffende Meinung war der Einstieg unseres Gesprächspartners Dr. Thorsten Krannich in unser RoC45 Gespräch am 20. Juli.
Der im März gewählte Theologe übernimmt ab September den Vorsitz des Dekanats Ulm, und blickt mit einem Theologiestudium und einer Promotion in Kirchengeschichte, aus einer etwas anderen Perspektive auf die zunehmende Regulierung. Die ihn selbstverständlich auch betrifft, denn 70 Prozent seiner Arbeit besteht aus der Koordinierung von Verwaltungsabläufen.
Doch zurück zu seiner Definition von Regelbewusstsein, die aus theologischer und philosophischer Sicht eine veränderbare Konstante ist. Keineswegs ein Widerspruch in sich, denn auch in der Bibel wurden Regeln im Laufe der Jahre diskutiert und verändert. So verschwand das alttestamentarische „Auge um Auge…“ und wurde durch die Bergpredigt und die Aufforderung „Liebet eure Feinde“ ersetzt. Vor der Aufklärung war das ethische Verhalten der Untertanen in den Herrschaftsbezirken streng geregelt. Das vermittelte Sicherheit und durch eine soziale Normierung waren bei Verstößen alle gleichgestellt. Durch Herrschaftswechsel und durch den gesellschaftlichen Konsens unterlagen diese Regeln einer stetigen Veränderung oder Aufhebung. Als Beispiel eines gesellschaftspolitischen Konsens in der Gegenwart nannte Dr. Krannich die Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität, die irgendwann gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar war und nicht dem Autonomiegedanken des 20. Jahrhunderts entsprach. Die Frage ob sich die Gesellschft derzeit wieder mehr Absicherung durch Regeln wünsche, beantwortete der Dekan mit einem klaren Ja. Die Coronapandemie sei da sicher ein Brandbeschleuniger gewesen, da niemand wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte und Regeln nahezu uneingeschränkt akzeptierte. Das habe sich in gewisser Weise durch Themen wie digitale Transformation und Klimawandel fortgesetzt. Da sich – basierend auf der Philosophie von Immanuel Kant – der Mensch nicht selbst normieren kann, brauchen wir Regeln, weil nur wenige freiwillig ihre Komfortzone verlassen. Vorraussetzung ist jedoch, dass diese Regeln von einer breiten Mehrheit als sinnvoll oder nützlich akzetiert werden.
Krannich, der die Digitalisierung in der Kirchenverwaltung und die Präsenz der Kirche in Sozialen Medien vorantreiben will, sieht in den „asozialenMedien“ in denen das fehlende Gegenüber immer wieder zu sprachlichen und zwischenmenschlichen Tabubrüchen führt, die Notwendigkeit einer Regulierung.
Fazit einer ausgesprochen anregenden Diskussion: wir selbst sind nicht selten Treiber für mehr Regeln, und müssen wieder lernen, gewisse Missstände auszuhalten. Die Zehn Gebote als bestes Beispiel für Regeln ohne Chaos geben Verhaltensweisen vor, setzen bei der Umsetzung aber auf Einsicht und Eigenverantwortung. Auf die abschließende Frage an Dr. Krannich, welche Regel er sofort abschaffen würde, nannte er die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)
Damit stimmt er mit den Gesprächsteilnehmern vorheriger RoC45 Runden weitgehend überein.
Manuel Hagel
„Der Kapitän der CDU Mannschaft im Landtag Baden-Württemberg“, Manuel Hagel, stand uns am 4.April Rede und Antwort, und gab mit dieser Definition seiner Position in Stuttgart die Richtung des RoC45-Gesprächs vor. Locker und unkompliziert ging es 45 Minuten um den Austausch von Meinungen zum Thema Regeln und Regelbewusstsein. Letzteres beschrieb Hagel aus seinem Verständnis, als Balance zwischen Freiheit und Verantwortung. „Jeder darf sein wie er ist, und unter dieser Maßgabe entwickeln wir Gemeinsinn und Gemeinschaft“. Dem Vergleich mit dem über Jahrzehnte gewachsenen Umweltbewusstsein widersprach Hagel. „Umweltbewusstsein gibt es schon lange. Es erforderte mehr Eigenverantwortung, die es früher auch ohne Regeln gab“. Auf dem Land aufgewachsen, habe er erlebt, dass die Landwirte aus Einsicht und Erfahrung richtige Entscheidungen getroffen haben. „Ohne Regeln. Da hat der Respekt vor der Natur eine lange Tradition“.
Das es zu viele Regeln gibt, die mehr hemmen als helfen, dem stimmte der CDU Fraktionsvorsitzende uneingeschränkt zu. Aus seiner Sicht war die Finanzmarktkrise Ende der 90er Jahre der Anlass, die offensichtlichen Regelungslücken konsequent zu schließen. „Die Frage nach der Schuld ist der falsche Ansatz, was wir brauchen sind bessere Zielvorgaben“. Manuel Hagel verwies auf das Positionspapier seiner Partei, in dem sie fordert, Gesetze nur mit Verfallsdatum zu verabschieden und vor der Vorlage zur Gesetzgebung neuer Normen verpflichtend einen Realitätscheck durch Praktiker durchzuführen.
„Dass es nicht immer leicht ist, resilient gegen momentane Stimmungen zu sein, habe ich selbst erfahren müssen, als ich mich gegen mehr Brandschutzvorschriften ausgesprochen habe, nachdem der Brand in einem Seniorenheim als tragischer Unfall feststand. Wenn dabei Menschen zu Schaden kommen, ist das sehr bedauerlich, aber Einzelfälle können nicht der Grund sein, etwas für alle neu zu regeln“.
Mit dem Satz „Ein Leben ohne Risiko ist ein Leben ohne Freiheit“ brachte er auf den Punkt, was ROC seit Jahren beschäftigt. Sensibilisierung für den Sinn oder Unsinn von Regeln, mehr Eigenverantwortung und, wie Hagel ergänzte, die vier K müssen bereits in der Schule gelehrt und auch angewendet werden. Die 4 K sind Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritischen Denken als Voraussetzungen für Innovationen. „Weil Start-ups schon in der Gründungsphase an zu viel Regelwerk scheitern, und Ideen nicht realisiert werden sind wir im Dynamikindex auf den hinteren Plätzen, während wir beim Innovationsindex unter den Top five rangieren“. Die Antwort auf die Frage welches Gesetz er sofort abschaffen würde, zögerte er nicht. Die Bundesemmissionsschutzverordnung! Ein Gesetz, dass nicht in die Zeit passt. Nicht das Einzige.
Marcel Emmerich
Am 20. Dezember 2022 war Marcel Emmerich zu Gast bei RoC45, unserem unkompliziert per Videokonferenz abgehaltenen Gespräch zu unserer Initiative; begrenzt auf 45 Minuten Gesprächszeit.
Herr Emmerich ist Mitglied des Bündnis 90 / Die Grünen und Bundestagsabgeordneter für Ulm und den Alb-Donau-Kreis.
Ihm wurde zunächst unser Verständnis eines Regelbewusstseins vorgestellt, woraufhin ihm die Gelegenheit gegeben wurde, auch seine Vorstellung davon zum Ausdruck zu bringen. Seinem Vortrag konnte man entnehmen, dass auch er einem „Verfallsdatum“ oder auch „Überprüfungsfristen“ für Regeln zugeneigt wäre, um den Bürokratieabbau in Deutschland voranzutreiben. Die immer neu entstehenden Gesetze zum Bürokratieabbau seien selbst sehr bürokratisch; der Normenkontrollrat stelle dem nur in geringem Maße etwas entgegen.
Auf unsere immer zum Ende von RoC45 gestellte Frage, welches Gesetz er denn abschaffen würde, hatte er eine sehr schnelle und deutliche Antwort: „Die Abstandsregeln bei Windkraftanlagen“ – ganz getreu dem Grundsatzprogramm seiner Partei. Marcel Emmerich erklärte sich bereit, auch bei zukünftigen Veranstaltungen unserer Initiative dabei zu sein.
Ronja Kemmer
Ausgewählte Gäste, ein spannendes Thema und ein Gesprächsformat von 45 Minuten. Das ist RoC45, eine Reihe von Videokonferenzen, die wir vor einem Jahr in loser Reihenfolge begonnen, und am 6.Oktober 2022 mit einem weiteren Gesprächspartner fortgesetzt haben.
Zu Gast bei RoC45 war diesmal MdB Ronja Kemmer. Die CDU-Abgeordnete für den Wahlkreis Ulm und stellvertretende Kreisvorsitzende der CDU Alb-Donau/Ulm, war nach einer von RoC veranstalteten Podiumsdiskussion mit Unternehmern 2019 bereits zum zweiten Mal unser Gast. Ihr politischer Schwerpunkt: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI).
Die Konfrontation mit dem Begriff Regelbewusstsein, beantwortete Ronja Kemmer zunächst mit der Feststellung, dieser Begriff sei für sie grundsätzlich positiv besetzt. Unterschiedlicher Meinung waren wir allerdings beim Verständnis von Regelbewusstsein und seiner Definition. Ronja Kemmer definierte Regelbewusstsein als ein breites Bewusstsein in der Bevölkerung für ein regelbasiertes Zusammenleben. Für RoC ist Regelbewusstsein dagegen die Sensibilisierung für die Konsequenzen von Regeln. Die sind bis zu einem gewissen Punkt positiv, beim Überschreiten eines Kipppunktes schränken sie jedoch die Innovationskraft, Motivation und Handlungsfähigkeit ein.
Eine Ursache für das zunehmend ausufernde Regelwerk sah Ronja Kemmer im „Nanny-Staat“ – einem Staat, der sich bis ins Detail um alles kümmern will. Dieser wird von Teilen der Politik befördert, aber auch von Teilen der Bevölkerung eingefordert. Sie vertrat die Ansicht, dass nur eine Digitalisierung und der Einsatz von KI – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des damit verbundenen Fachkräftemangels – eine durchgängig funktionierende Verwaltung künftig sicherstellen könne. Das sei auch eine Chance, Prozesse zu optimieren. Zur Bekämpfung der Bürokratie gibt es auf Bundes- wie auch auf Länderebene Normenkontrollräte. Allerdings seien diese in den täglichen Politikbetrieb wenig eingebunden und wenig präsent. Auch fehlten die Kompetenzen, um tatsächlich etwas verändern zu können.
Einigkeit bestand darin, dass die Problematik der Überregulierung nicht zeitnah behoben sein wird und somit auch 2023 noch Gesprächsbedarf zu diesem Thema besteht. Ihre Beteiligung daran sagte sie zu, und so sind wir auf weitere Impulse gespannt.
Alexander Engelhard
Der CSU-Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Günzburg verbindet als Müller und Dipl. Wirtschaftsingenieur Handwerk, Landwirtschaft, Technik und Politik und vor allem kommt er aus der Praxis. Am 6.September stellte er sich bei RoC45 unseren Fragen, die er spontan, unkompliziert und „aus dem Bauch heraus“ beantwortete.
Die Frage nach seiner Definition von Regelbewusstsein konterte Engelhard mit der Feststellung, dass Bürger Regeln wollen, sich von Regeln nicht betroffen fühlen, oder sie einfach akzeptieren. „Darüber nachdenken tun die Wenigsten…. Nur wer betroffen ist setzt sich mit den Vor- oder Nachteilen der Regel auseinander. Das sind vielleicht 50 Prozent“. Der Druck für Veränderungen müsse noch weiter steigen, bevor Menschen die Komfortblase verlassen. „Gerade in der derzeitigen Lage zeigen sich die fehlende Eigenverantwortung und die mangelnde Bereitschaft selbst aktiv zu werden. Die Welt ist so komplex, dass Regeln dem Alltagsleben eine Struktur geben“.
Engelhard stimmte zu, dass zu viele Regeln notwendige Veränderungsprozesse behindern, wenn nicht gar verhindern. „Das betrifft jedoch weniger die Bürger, als vielmehr Unternehmen“. Sein Beispiel: Datenschutz. Aus seiner Sicht ein überflüssiges Regelwerk, das mehr schadet, als nützt. Auch wenn er manchmal die Hoffnung fast aufgegeben hat, gehe es darum Betriebe zu unterstützen. Und es gibt Ansätze wie den Arbeitskreis Staatsreform, oder mit einer Merit-Order beim Strompreis.
Wenig Positives sah Engelhard dagegen beim Normenkontrollrat, „der schon vom Namen her zu kompliziert ist“, und bei der Ampel-Regierung, die in dieser Konstellation nur auf der Basis von Kompromissen agieren könne. Zum Ende der 45 minutigen Gesprächs versprach Engelhard in spätestens einem Jahr wieder bei RoC45 dabei zu sein. Spannend wie sich bis dahin alles entwickeln wird.